Chillwave – oder wie der Mainstream sepiafarben vor Neid wurde
Von Sabrina Stallone | 29. Dezember 2010 | 6 Kommentare
“Chillwave is the new Indie.” Okay, nichts Neues. „Chillwave is the new Mainstream.“ Da nähern wir uns der Sache schon eher. Denn besagte Welle flutet derzeit nicht nur Brooklyn und Williamsburg, sondern auch die L.A. Hills und – tatsächlich – Ibiza.
Chillwave, auch genannt Glo-Fi – gerade als man dachte, alle guten Genrebezeichnungen seien schon vergriffen, prägte der Moses aller Hipster, Carles von Hipster Runoff, im Sommer 2009 diesen Begriff und steckte somit Bands wie Washed Out, Neon Indian, Toro Y Moi und Memory Tapes unter dieselbe abgewetzte Flanelldecke.
Das Echo der Blogosphäre war enorm: ein jeder versuchte das neue Phänomen in Worte zu fassen, von Pitchfork bis zum Wall Street Journal („it’s recession-era music: low-budget and danceable“). Der Hype versetzte manchen Blogger in solch grossen Eklat, dass es vielen schwer fiel, das Kind beim Namen zu nennen: Synthie-Pop mit deutlicher Schwäche für die 80s, scheppernde Lo-Fi-Schichten und Feelgood-Melodien. Mindestens ebenso wichtig wie die Musik ist hierbei die Ästethik: verschwommene Bandfotos in Sepia-Tönen, Polaroid-Schnappschüsse von der Tour, zerzaustes Haar in der Abendsonne. Nostalgie wird grossgeschrieben, eine Prise Vintage gehört selbstverständlich in jedes Outfit.
Egal, wie viele behaupten, Chillwave sei ein erfundenes Genre (denn welches ist es schon nicht?); Völlig irrelevant, dass Kritiker Glo-Fi’s Requiem bereits schreiben, weil das prägende Album der Bewegung zu lange auf sich warten lässt; die Welle hat ganz schön viel Aufsehen erregt. Ein (bereits vom Guardian geworfener) Blick in die internationale und hiesige Musiklandschaft zeigt: nicht zuletzt im Mainstream.
Die überbordende Coolness der neuen Indie-Elite, angeführt von Ernest Greene (Washed Out) und Chaz Bundick (Toro Y Moi) liess die ganz grossen Abräumer sepiafarben vor Neid werden. So scheints zumindest, wenn man das Booklet der neuen Kings Of Leon-Scheibe Come Around Sundown durchblättert und die Gebrüder Followill beim Sändeln oder auf Backstage-Polaroids ertappt.
Wie kein anderer frischt der lauwarme James Blunt seine High Definiton Pressefotos mit einem simplen, aber effektiven Polaroidrand auf und glättet die chillwave-suspekten Elemente im Video zu „Stay The Night“ bis in die Haarspitzen. Wenn dann selbst Justin Bieber sein Album-Cover mit dem iPhone-App Hipstamatic bearbeiten lässt und Lady Gaga ihre Twitter-Fotos mit Instagram schiesst, kann man getrost von einem Chill-Tsunami sprechen.
Die Schweizer Musikszene bleibt nicht unverschont. Adi Sterns Blick in die Ferne träumt von etwas mehr Glo-Fi in seinem aalglatten Image und Myron bringen mit ihren neuen Pressefotos ein wenig sonnengebräunte Coolness in ihre graue Anzugswelt. Sogar die Pioniere der Chillwave dürften ihren Ursprung in der Schweiz haben: das Cover des selbstbetitelten Albums der Lovebugs (1996) ist der zuvor beschriebenen Ästethik nämlich nicht einmal allzu fern.
Überlegt man es sich allerdings recht, flutet die Welle derzeit nicht nur musikalische Milieus, sondern auch den ganz normalen Alltag. Denn spätestens wenn das Facebook-Profil des uncoolen grossen Bruders und der langweiligen Arbeitskollegin nicht mehr mit Ferienfotos aus Aya Napa, sondern mit Hipstamatic-Bildern gespickt ist, weiss man wohl oder übel: Es ist Chillwave – es ist überall und „It’s all around yourself„.
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