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Dr. Pop, darf ich meine Lieblingsband noch gut finden, wenn sie alle gut finden?

Von    |   23. Juni 2010   |   10 Kommentare

Manche Band wird schneller bekannt als es dem Fan der ersten Stunde lieb ist. Soll man seiner Lieblingsband auch nach dem Ausverkauf die Treue halten?

Illustration: Sarah Von Blumenthal

Es ist wie verhext. Da hat man den Namen seiner neuen Lieblingsband gerade noch heimlich in die Schulbank geritzt, und schon macht der Hype auf dem Pausenplatz die Runde. Spätestens wenn der Oberstreber im Klassenlager das neue Album einlegt, ist es Zeit, die Band endgültig fallen zu lassen. Eines freien Nachmittags geht man in den Wald, verscharrt die CDs und verbrennt das Bandshirt, das man einst mit Stolz getragen hat.

Der Indie-vidualist gönnt seinen Lieblingsbands alles, nur keinen kommerziellen Erfolg. Mit Entsetzen beobachtet der subkulturelle Abgrenzungsneurotiker die Entartung seiner geliebten Kunst – sei es, weil seine Lieblingsband plötzlich im Lokalradio gespielt wird oder weil sie, wie kürzlich die Silversun Pickups, den Catwalk von GNTM beschallt. Der Fan der ersten Stunde weiss nicht, was ihn mehr anekelt, der Ausverkauf seiner Lieblingsband oder die Masse, die ihm seine Idole streitig macht.

Die Wertvorstellungen des Mainstream-Verächters sind paradox: Einerseits beklagt er sich über den schlechten Musikgeschmack der Welt, andererseits missgönnt er der Masse die seines Erachtens gute Musik. Er verachtet den unmündigen Pöbel, der willenlos das Programm konsumiert, das ihm die mediale Gehirnwäsche eintrichtert. Wer hört, was alle hören, kann schliesslich keinen Musikgeschmack haben. Also streitet der Indie-vidualist ab, seine ehemalige Lieblingsband jemals gut gefunden zu haben.

In der hitzigen Diskussion um die Silversun Pickups wurde als Begründung für deren plötzlichen Superstardom die Vermutung geäussert, Indie sei der neue Mainstream, eine derzeit weit verbreitete These, die meines Erachtens jedoch nichts neues ist. Die Gegenkultur ist seit jeher der Motor der Populärkultur. Jede Pop-Revolution hat ihre Kinder gefressen: Das Nevermind-Baby hat schneller nach der Dollarnote gegriffen als es der Bleach-Fangemeinde lieb war, Punk ist dem Great Rock’n’Roll Swindle der Sex Pistols auf den Leim gegangen, und die Street Parade ist zur Fasnacht der Prolos geworden.

In einer überindividualisierten Gesellschaft schwindet der Vorsprung des individualistischen Indie-Checkers. Das Geheimwissen, das sich früher zwischen den Zeilen von Fachmagazinen und hinter dem Plattenladentresen verborgen hat, wird heute vom Internet in Echtzeit ausgeplaudert. Wer sich leicht konsumierbare Musik anhört, muss sich damit abfinden, dass diese im Nu von der Unterhaltungsindustrie vereinnahmt wird. Wer seine Lieblingsband nicht an die Masse verlieren möchte, der flüchtet sich am besten in mongolischen Obertongesang oder südkoreanischen Industrial.

Die Grenzen zwischen Underground und Mainstream verlaufen im Pop des 21. Jahrhunderts fliessend: Shakira covert ganz selbstverständlich The XX und Indie-Bands interpretieren völlig ironiefrei Songs von Lady Gaga. Trotzdem macht man es Grizzly Bear zum Vorwurf, dass sie ihre Songs an VW und an die US-Lotterie verkaufen. Als Musterbeispiel werden The Doors heranzitiert, die sich in den 60ern vehement gegen die Lizenzierung ihrer Songs zu Werbezwecken gesträubt haben. Doch die Zeiten haben sich geändert. Mit Tonträgern alleine lässt sich kaum noch Geld verdienen.

Man sollte sich deshalb nicht allzu fest grämen, wenn man seine Lieblingsband plötzlich mit der Masse teilen muss. Eine Welt, in der alle Grizzly Bear hören, wäre doch eigentlich keine schlechte Welt. Anstatt sich gegenseitig anzupöbeln, würden Jugendliche spontan Harmoniegesänge anstimmen, Eltern würden ihre Kinder statt mit einer iPhone-App mit der Harfe in den Schlaf wiegen, und auf Tilllate würden sich lauter knuffige Nerds zuprosten.

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