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Platte der Woche: Tocotronic – Schall und Wahn

Von    |   19. Januar 2010   |   7 Kommentare

Tocotronic veröffentlicht Studioalbum Nummer Neun – und legt die Latte noch einmal höher.

Nach „Kapitulation“ hatte ein Freund und ausgesprochener Tocotronic-Liebhaber die Befürchtung geäussert, das wäre es jetzt wohl gewesen mit den Hamburgern. Anfang 2010 gibt Bassist Jan Müller zu Protokoll: „Der Sound von Tocotronic ist noch lange nicht ausgelotet“.

Auch wenn uns die Vier wohl noch eine Weile erhalten bleiben: Die „angry young men“ der deutschen Indieszene, wie ein Kollege sie einst betitelte, kommen in die Jahre. Auf aktuellen Promofotos posieren sie wie zwei alte Ehepaare, Händchen haltend, sich gegenseitig stützend.

Und auch die Musik unterliegt dem Alterungs-, besser gesagt, einem Reifungsprozess. Der bedächtige Acht-Minuten-Opener „Eure Liebe tötet mich“ beginnt anderthalb Minuten lang wie eine Skizze eines Pink-Floyd-Stücks; Gitarrist Rick McPhail bekommt allen Raum, sich zu entfalten. Erst dann ertönt die raue Gitarre, die den Sound of Tocotronic in ihrer zweiten Karrierehälfte so geprägt hat.

Sind die Hamburger endgültig altersmilde geworden? Mitnichten! Die Wut, die Auflehnung ist nach wie vor da, doch wie schon auf „Kapitulation“ gilt die Handlungsmaxime: Selbstaufgabe ist Widerstand!

Auch wenn die Liebe tötet, gebt mir mehr davon, fordert Dirk von Lowtzow, und lehnt in „Macht es nicht selbst“ jegliche Eigeninitiative ab. Wo uns der postindustrielle Turbokapitalismus uns selbst überlässt, verweigern wir uns dem Imperativ, nach dem der Selbstaktivierte der Gesellschaft den grössten Dienst erweist.

Keine Frage, Tocotronic wollen nach wie vor die Grundordnung überwinden. Nicht unbedingt die demokratisch-freiheitliche, sondern einfach jegliche Form von Ordnung, die das Individuum hemmt. Heraus kommt weder Neoliberalismus noch Anarchie, lediglich Schall und Wahn.

Denn nur wer sich selbst (und damit auch jegliche Ordnung) überwindet, lebt ewig, so wie im überragenden „Die Folter endet nie“ postuliert. Die dunklen Sujets, die oberflächlich suggeriert werden, Tod, Terror, Folter, Gewalt, Wahnsinn und Diktatur sind dabei nicht mehr als Blendwerk.

Tocotronic feiert das Leben, auf ihre ganz eigene Art. Sie haben mit „Schall & Wahn“ ein weiteres Meisterwerk geschaffen, das in seiner Subtilität und Deutungsunmöglichkeit kaum zu übertreffen ist. Und doch mit „Bitte oszillieren sie“ einen dadaistischen Exkurs beinhaltet, der der Erhabenheit der ganzen Platte die Schärfe nimmt.

Wie schon bei „Kapitulation“ stellt sich die Frage: Wie soll es noch besser werden? Tocotronic sind und bleiben die beste deutschsprachige Band der Gegenwart.

Tocotronic spielen am 07. März ihr vorerst einziges Konzert in der Schweiz in Zürichs Roter Fabrik.

7 Reaktionen

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  2. Leben … ist nichts mehr als eine Fabel, erzählt von einem Idioten, voll mit Schall und Wahn, die nichts bedeutet. « Elmorino's Blog
  1. #1 olli

    18:51 Uhr, 19.1.2010, Link

    wie ich aus zuverlässiger quelle weiss, ist besagter freund mächtig froh ueber die fortsetzung der tocotronic-geschichte. feine rezension herr möller. der freitag, d.h. das album kann kommen

  2. #2 Mathias Möller

    13:30 Uhr, 20.1.2010, Link

    Harr. Witzbold. Und danke für die Blumen, bin gespannt, was du zur Musik sagst.

  3. #3 Gabriel

    23:55 Uhr, 20.1.2010, Link

    was ja irgendwie kaum jemand zu schätzen weiss, ist, dass tocotronic eine der lustigsten bands deutschlands ist, die sogar die spex-chiefs im interview so richtig durch den kakao zieht mit ihren ironischen antworten auf total bescheuert ernste fragen. kommt wohl davon, dass viele, die toco anhimmeln, sie so fürchterlich ernst nehmen, jegliche ironie übersehen. klar, man kann etwa zum schluss kommen, dirk von lowtzow lehne in „macht es nicht selbst“ „jegliche eigeninitiative ab“ – aber dieser schluss greift ja schon insofern zu kurz, als von lowtzow in dem moment, als er das singt, etwas selbst macht – texten, musizieren, (ironische) botschaften verbreiten.

    (nb: wenn man sie denn schon beim wort nimmt: während «kapitulation» intrinsisch, stichwort «selbstaufgabe» – wobei ich hier nicht von aufgabe des selbst, sondern einfach von aufgeben im allgemeinen sprechen würde – als leitmotiv hatte, hat «schall und wahn» mehr extrinsisches. natürlich gebrochen hoch hundert. und wieder, aber selbstverständlich anders, dünkt mich «anarchisch» eigentlich kein allzu verfehltes wort im zusammenhang mit toco).

    eins kann ich hier aber unterschreiben: toco sind wohl die beste deutschsprachige band der gegenwart.

  4. #4 Mathias Möller

    08:16 Uhr, 21.1.2010, Link

    Das ist ja das schöne an Tocotronic. Man kann sie so Ernst nehmen, wie man will. In Interviews zu diesem Album haben sie ja mehrfach gesagt, dass sie auch blödelige Lieder schreiben, klar. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das auch eine Reaktion ist auf diese intellektuelle Überhöhung ihrer selbst.

    Andererseits sind sie wirklich hochintelligent und unglaublich belesen. Ich hab sie selbst im Interview auch schon recht ernst erlebt, man muss nur die richtigen Fragen stellen. Über Politik blödeln sie z.B. nicht und auch wenn man offen zugibt, dass man nicht versteht wovon sie singen, dann erklären sie einem das. Ich glaube, dass sie albern werden, wenn man versucht, ihnen auf Augenhöhe zu kommen.

  5. #5 Rockgitarre

    14:20 Uhr, 6.1.2011, Link

    Ein wundervolles Album voller Ironie und Wahrheit. Zum 18 jährigen der Band habe ich auf http://www.schule-der-rockgitarre.de/de/magazin/178 einen Artikel über die Geschichte der Band geschrieben. Schaut rein:)

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