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Vic Chesnutt lässt tief blicken

Von    |   11. November 2009   |   3 Kommentare

Mit „At The Cut“ veröffentlicht Vic Chesnutt ein intimes Album, auf dem er entschlossen sein Innerstes nach aussen kehrt, um über sich hinauszuwachsen.

Vic Chesnutt_At the CutThe courage of the coward is greater than all others„: Mit brüchiger Stimme deutet Vic Chesnutt schon mit der ersten Songzeile an, was sich im Fortlauf des Albums immer deutlicher abzeichnen wird. „I am a coward“ singt Chesnutt und droht unter der Last seiner Worte zu zerbrechen. Ein zweites Mal setzt er an um der (An-)Klage Nachdruck zu verleihen und fast ist man versucht, Mitleid zu haben mit diesem Mann. Mitleid mit ihm, der auf Lebzeiten an den Rollstuhl gefesselt für eine Jugendsünde büsst und sich nun als Feigling hinstellt. Doch mit jeder Wiederholung verliert die Bekenntnis „I am a coward“ an Demut und schwillt allmählich zu einer regelrechten Kampfansage an. Und diese kämpferische, unerschrockene Attitude wird Chesnutt mit grösster Entschlossenheit das ganze Album über gegen sich und seine Ängste ins Feld führen.

„At The Cut“ ist das Album eines Mannes, der seiner Verletzlichkeit zum Trotz erstmals die Kraft findet, sich gegen seine Selbstzweifel aufzulehnen. Und so singt sich Chesnutt stellenweise regelrecht die Seele aus dem Leib, die, kaum hat sie den schweren Körper verlassen, von seiner Entourage musikalisch wieder eingefangen und sanft eingebettet wird. Dabei zeugt es von hohem Können, dass Chesnutts Mitmusiker seine Worte mit dramatischen Gitarren und zitternden Violinen zu unterstreichen wissen, ihnen mit Paukenschlägen tonnenschwere Ausrufezeichen hinzufügen, sich aber niemals dazu hinreissen lassen, grösser und grossartiger zu werden als Chesnutt selbst.

Diese Zurückhaltung ist nicht selbstverständlich, sind es Fugazi’s Guy Picciotto oder Efrim Menuck von Silver Mt. Zion Orchestra doch eigentlich gewohnt selbst im Mittelpunkt zu stehen. Wie zuvor schon „North Star Deserter“ ist Chesnutts neues Album im Hotel2Tango – dem Stammstudio seines Labels Constellation – und unter Mithilfe derselben Musiker entstanden. „At The Cut“ fällt im Vergleich allerdings deutlich reduzierter aus. Mit viel Feingefühl nimmt sich das Ensemble Chesnutts intimem Album-Entwurf an und versteht es den Singer/Songwriter in den persönlichsten Momenten sich selbst und seiner akustischen Gitarre zu überlassen („When The Bottom Fell Out“), ihm auf Streifzügen durch Kindheitserinnerungen dezent Gesellschaft zu leisten („Concord Country Jubilee“, „Granny“) und seiner Stimme in symphonischer Untermalung auch einmal den ganz grossen Auftritt zu bescheren („Chinaberry Tree“, „It Is What It Is“).

Als Schlüsselsong des Albums lässt sich „Flirted With You All My Life“ sehen, in welchem Chesnutt seine dunkelsten und gleichzeitig lebensbejahendsten Gedanken offenbart: „And everywhere I go / you’re always right there with me / I flirted with you all my life / even kissed you once or twice / Until this day I swear it was nice / but clearly I was not ready.“ Was im ersten Moment an eine schüchterne Liebesgeschichte erinnert, entpuppt sich als ausdrückliche Abkehr eines Mannes von seinem langjährigen, vielleicht verführerischsten Lebensgefährten. Mit den Worten „O’Death, O’Death, really I’m not ready“ springt Chesnutt dem Tod von der Schippe und wirkt dabei so entschlossen und mit sich im Reinen, dass man ihm glauben möchte.

„At The Cut“ gibt es seit Ende September bei uns zu kaufen. In Sachen Artwork übertrifft sich Constellation einmal mehr selbst und schnürt Vic Chesnutts intimes Werk zu einem ganz wunderbaren Gesamtpaket, von dem man sich gerne eine Scheibe abschneidet.

Vic Chesnutt – Flirted With You All My Life

[audio:http://cstrecords.com/audio_files/0000/0021/08_Flirted_With_You_All_My_Life.mp3]

Vic Chesnutt – Chain

[audio:http://cstrecords.com/audio_files/0000/0020/04_Chain.mp3]

Vic Chesnutt – Philip Guston

[audio:http://cstrecords.com/audio_files/0000/0019/06_Philip_Guston.mp3]

3 Reaktionen

  1. Linksrum vom 11.11.2009 | Hey Tube
  2. » Darling, die 00er Jahre haben meine Band verschluckt! | 78s - Das Magazin für bessere Musik
  1. #1 S.

    16:33 Uhr, 13.11.2009, Link

    … und danach sollte man sich die Ohren abschneiden. grandios!

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