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Beinah spannender als Wittgenstein: Pleq’s Tractatus musicus

Von    |   8. Oktober 2009   |   0 Kommentare

Da denkt einer in ganz eigener Logik – und hat erst noch deren einzig plausiblen Ausdruck gefunden. Der polnische Philosophie-Student Bartosz Dziadosz hätte zumindest in Sachen Glitch den Ehrendoktor verdient.

PleqMit „The Fallen Love“ und „Metamorphosis“ fügt Pleq seinem persönlichen Tractatus musicus gleich zwei neue Kapitel hinzu, die vielleicht nicht Bahnbrechendes offenbaren, aber dem elektronischen Werk endgültig hörenswerten Gehalt verleihen. Speziell mit „Metamorphosis“ gelingt dem Studenten aus Katowice ein musikal-dialektisches Meisterwerk, in dem romantische Empfindsamkeit auf rohe Schwerindustrie trifft.

Organische Soundflächen unbenannter Gefühle fliessen durch weite, verlassene Hallen der Seele und verleiten die Vernunft-Maschinerie zu spontanem Rumpeln – Ideen funken, Vorsätze knistern und Argumente klickern.

Ein melancholischer Vortrag über die Gegensätzlichkeiten des Lebens, der eben diese in magnetisierender Harmonie vereint. Vorgetragen in einer wortlos-direkten Sprache, die dem einzelnen Hörer keinen Interpretationsspielraum lässt und in der Gruppe doch immer wieder zu hitziger, aber unnützer Diskussion führt. Gelegentlich dreinflüsternde Frauenstimmen, wimmernde Geigen und von beinah tanzbaren Beats begleitete IDM-Exkurse halten auch schläfrige Zuhörer bei Stange. Alles in allem spannender als so manch philosophische Lehrschrift.

Des frühen Wittgensteins Erkenntnis „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ stimmt nur bedingt, denn durch ihre Unmittelbarkeit transzendiert Musik jegliche Philosophie und Logik. Ihre einzigartige Konsistenz sprengt den soziokulturell konstruierten Horizont: Noch unmöglicher als andere Phänomene lässt sich Musik mit Worten fassen und in mitteilbare, geschweige denn für andere nachvollziehbare Form bringen. Sie entzieht sich a priori der Kritik und sprachlichen Kommunikation, indem sie ursubjektive, intuitive Regionen der Wahrnehmung anspricht. Sie lässt Gedanken dem Korsett der Begrifflichkeit entschlüpfen, regt durch deren plötzliche Nacktheit prärationales Empfindungsvermögen an und lädt ein zur Lust an der puren Emotion.    

Auch Wittgensteins Postulat „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ mag grundsätzlich stimmen, trifft hier aber auf taube Ohren – wollen uns ja nicht den Ast absägen lassen, auf dem wir sitzen. Wir versuchen’s trotzdem immer wieder – für die einen Leser mit mehr, für die anderen mit weniger Erfolg. Aber zum Glück – und dank sei dem Web-Format von 78s – hat bei uns eh meist die Musik das letzte ‚Wort‘. 

Dr. Pleq’s auf Netlabels erschienenen früheren Abhandlungen „But It Does Not End There“ und „Intelligible“ gibt es hier und hier umsonst, die zwei neuen haben ihren verdienten Preis. 

Reconstruction (Metamorphosis)

Every Day Pressure (But It Does Not End There)
[audio:http://www.archive.org/download/cl-010_Pleq_-_But_It_Does_Not_End_There/cl010_01_Pleq_-_Every_Day_Pressure.mp3]

Our Hearts Die
[audio:http://www.archive.org/download/cl-010_Pleq_-_But_It_Does_Not_End_There/cl010_06_Pleq_-_Our_Hearts_Die.mp3]

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