78s has left the building. ¯\_(ツ)_/¯

Alles zu ‘Motel’

78s-Motel: Rolf Schlup über Nachwuchsförderung

Statistisch gesehen wird der Mensch immer älter. Und weil Künstler ja bekanntlich auch nur Menschen sind, können wir heute vor allem diejenigen auf den breiten Bühnen bewundern, die schon vor Jahren und Jahrzehnten da vorne gestanden und gesungen haben. Arrangements und Gesichter wurden zwar in vielen Fällen mehr oder weniger sanft renoviert – Hits und Menschen stammen aber fast ausnahmslos aus den 80er-, 70er oder gar 60er-Jahren. Jungblut ist wenig zu finden. Selbst Madonna könnte meine Schwester sein und bei Robbie und Kylie bin ich mir schon nicht mehr ganz sicher, was sie 2015 tun. Zukunftssicherer Künstlernachwuchs scheint also Mangelware. Doch für einmal ist nicht die Statistik schuld.

Die Musikindustrie behauptet ja noch immer, dass sich das musikalische Konsumentenverhalten Anfang der 90er-Jahre von heute auf morgen schlagartig geändert hätte und man mit Retortenbands und Schnellschuss-Talenten nur auf die Wünsche der Käufer reagiert hätte. Bullshit! Oder hat irgendjemand mal von Demonstrationen von Musik-Fans gehört, an denen statt glaubwürdiger Künstler nur noch profillose und austauschbare Interpreten mit einer künstlerischen Lebenserwartung von maximal 18 Monaten gefordert wurden? Leute, dass mit den MP3s hätte man ahnen können

Glücklicherweise haben viele Musiker einen harten Kopf – vor allem wenn’s um Musik geht. Und darum sind nicht zuletzt in der Schweiz zahlreiche Revoluzzer zu beobachten, die sich „die alte Schule“ zum Vorbild nehmen. Mit viel Talent, Fleiss und Ausdauer touren sie landauf landab, schreiben Songs, die aus dem Bauch und nicht aus der Mikrowelle kommen und träumen nicht davon, morgen auf irgendeiner Titelseite und übermorgen nirgends mehr zu sein. Ihnen ist zu wünschen, dass ihnen dasselbe passiert, wie den Jungrockern von gestern, die heute Legenden sind: Eine Mannschaft, die sie in ihrem Sinne unterstützt und eine Industrie, die sie fördert und publik macht. Das Publikum braucht man Ihnen nicht zu wünschen – es wartet schon.

> Rolf Schlup ist einer der erfahrensten Musikpromoter der Schweiz und hat u.a. für Sony BMG gearbeitet. Seit April dieses Jahres ist er als „das office.ch – Promotion und mehr“ gemeinsam mit Claudia Boggio und Nick Heizmann in Sachen Musik unterwegs.

Illustration: Sarah Von Blumenthal

78s-Motel: Dennis Busch – Indieaner der ersten Stunde

Mit Salbei-Tee und Halsschmerzen fühle ich mich mit meinen 30 Jahren schon ziemlich alt heute. Vielleicht reserviere ich mir am Openair St. Gallen doch noch ein Hotel Zimmer. Im Hintergrund singen die Smiths „Panic on the Streets of London“. Mmmh, schon lang nicht mehr gehört. Apropos Panic: „Panic at the Disco“ überkommt mich regelmässig. Tanzen mit gleichaltrigen scheint mir schwierig geworden zu sein.

Aber tanzen tu ich und das wirklich gern. Für Gespräche sind die Bars da, in den Clubs muss ich mich bewegen. Ist wohl schon des öftern passiert, dass ich jemanden mitten im Gespräch stehen gelassen habe, weil gerade ein Hit zum Tanzen aufforderte. Sorry for that. Ich gebs zu: Elektro ist weniger mein Ding als Indie. Aber muss die Indie Szene so jung sein oder bin ich einfach schon zu lang dabei und sollte schleunigst meine Lederjacke gegen ein Schatzalp-Ticket für Elektro Idylle tauschen?

Meine Indie-Phase begann mit „Bittersweet Symphony“ und hält erstaunlicherweise bis heute an. Hab schon einiges durchgemacht, von 70s, 80s, über Hard Rock, NDW, bis zu hin zu Disco & Funk. Fallera, kann ich da nur sagen. Ein paar Jahre lang legte ich mit meinem besten Freund 60s-90s Hits auf und verdiente nicht schlecht Geld dabei. Aber glaubt mir: Ich kann nicht nachvollziehen wie Vitamin S YMCA ohne Ohrenstöpsel erträgt. Und noch weniger, dass es noch immer Leute gibt, die dazu tanzen können.

Indie ist geblieben, aber die Zeiten haben sich geändert. Wir werden vernünftiger. Ach wie vermisse ich die Gebrüder D’Aulerio, die regelmässig meine Couch im Seefeld besetzten, den Laundry Day und die verkaterten Donnerstage – das waren noch Zeiten. Ein Hoch auf das LUV!

23 Uhr, ich fühle mich müde und schwach. Im Badezimmerspiegel betrachte ich meine grauen Haare. Freue mich aufs Schlafen. Ich bin mir sicher, dass der Salbei-Tee seine Wirkung zeigen wird und ich mich Morgen um Jahre jünger fühlen werde. Ich leg mich aufs Bett, schmeiss meinen Lieblings-Hit „Finally“ von „The Frames“ rein und warte auf den Schlaf. Endlich.

Dennis Busch organisiert die Tea Time-Partys und hat vor kurzem die Website indie.ch lanciert.

Illustration: Sarah Von Blumenthal

78s-Motel: Michel Mettler – 40 und ein bisschen leise

STELL ENDLICH DIESEN LÄRM AB – wer kennt den Satz nicht von früher her, aus dem Mund einer besorgten Mutter, die um die Hirnmasse ihres headbangenden Sprösslings bangt? Dass der gleich noch etwas aufdreht, ist Ehrensache. Aber Hand aufs Ohr, Freund um die 40: Wie hältst du’s heute mit der Lautstärke?

Die einen haben damals ein Ausrufezeichen hinter das Wort Lärm gesetzt: „Ist Intensität, ist unser Leben, ihr Leisetreter!“ Die andern, zu denen ich zähle, haben widersprochen: „Wer das Lärm nennt, hat kein Ohr und keine Ahnung von Kunst.“ Mit dieser Strategie bin ich nicht weit gekommen bei meinen Erziehungsbevollmächtigten. Immerhin habe ich sie dazu gebracht, einzuräumen, das sei organisierter Lärm. Wie grossmütig!

Doch die Lebensjahre, muss ich zugeben, haben auch mich leiser gemacht. Oft stelle ich fest, wie ich, statt andere zu stören, mich beim Erlauschen feiner Details stören lasse. Immer öfter möchte ich vom Schreibtisch weg auf die Strasse rennen und jetzt, zwanzig Jahre später, selbst jene Forderung rausbrüllen: Stellt endlich diesen Lärm ab! Weil niemand zuhören würde, lasse ich’s bleiben und merke schon bald, dass ich intuitiv Gegenlärm produziere. Für Momente soll ein Lärm den andern erträglich machen. Vielleicht gelingt es mir, ein Reservat der Stille zu errichten, an dessen äusserer Umfriedung der Lärm vorbeitobt, für kurze Zeit meinetwegen…

Doch die Unterscheidung zwischen Lärm und Musik ist nur eine blauäugige Übereinkunft zwischen friedliebenden Menschen. Würde dieser Friede einmal aufgekündigt, käme zum Vorschein, wie unhaltbar jene Definitionsgrenze ist, die durch die Geräuschwelt verlaufen soll, eine Seite zu Musik, die andere zu Lärm erklärend. Wir haben uns geeinigt, da nicht allzu scharf hinzuhören – und so lassen wir Lärm Lärm sein, damit Musik Musik bleiben darf. Nun denn, Gehörschutz runter! Aber was zum Teufel ist das schon wieder für ein Garten­gerät, mit dem mein Nachbar am Zaun ein exzessives Solo spielt?

Michel Mettlers Romandebut „Die Spange“ ist bei Suhrkamp erschienen. Lesen!

(Illustration: Sarah Von Blumenthal)

78s-Motel: Clau Dermont über Musica dal Grischun

Gust è gust – quai san tuts. Ch’il Grischun porscha blers gusts, è era cler. En il Grischun è oravant tut la cultura da cors derasada. Oravant tut tar ils giuvenils han auters stils da musica chattá la via enfin il Grischun.

Els davos onns è la cuntrada musicala dal Grischun vegnida pli vasta. Fitg enconuschent è il hip hop Grischun, ch’entschaiva tar Sektion Kuchikästli, va sur Breitbild e Gimma e finescha tar las Liricas Analas, l’emprima furmaziun rumantscha da hip hop. Dentant era auters stils da musica èn enconuschents sur il cunfin ora: Mario Pacchioli ha chantá sasez cun sias balladas en ils cors da las mammas Svizras, ils Skywards han schizunt gudagná il MyCokeMusic-Songcontest.

Dentant tut quai na fa betg plaschair vairamain a mai. Pitschnas bands, pli pac enconuschentas, èn las bands che plain a mai. The Pets, Helicobakter, Unused Pawnshop, The Pansonic Airports, The Happy Space Hippies, Projekt 12á30 ni era The Capoonz, mo per numnar insaquantas. Quellas sco era autras bands han adina puspè la pussibilitá da concertar el Grischun. Dentant èn las bands rumantschas tranter quell’elecziun plitost scart…

Sper paucas bands grischunas „bunas“ vegn la musica il bler importá ord auters lieus en il chantun Grischun. Saybia (DK), Click Click Decker (D), Masters of Disguise (GB), My Name is George (ZH), Asleep (ZH), Heidi Happy (LU) ed era auters visitan il chantun Grischun e fan plaschair a cors musicals che na lessan betg tadlar mo il mainstream grischun. Adina puspè chattan ils Grischuns bunas bands. Da recumandar èsegiramain dad adina puspè consultar il program da l’ustaria „Werkstatt“. Jau sper, che nus vegnin era els proxims onns visitads stediamain da bunas bands, per che era nus avain insatge da tadlar e na stuain betg emigrar or da noss bel chantun.

Illustration: Sarah von Blumenthal

78s-Motel: Schorsch Kameruns Titankatzen-Manifest

Sarah von BlumenthalVor seiner Abreise übergab Schorsch Kamerun (Die Goldenen Zitronen) dem Concierge einen Umschlag mit der Aufschrift „Das Manifest“ und murmelte dazu: „Das muss an die Öffentlichkeit gelangen…“

New Stream. Manifest.

New stream music ist freies Spiel. Interessenfreie Improvisation. Kalter Jazz. Das bürgerliche Gedächtnis und der nasse Tod werden zu einer musikalischen „Rede“ herangezogen. Ihr Ton ist klar. Ihre Protagonisten sind Glasmenschen, deren Atmung Gesang sein soll. Die Musiker sind schön, weil sie aussehen wie ein Mädchen. Ihre Bewegung ist beschränkt: unser Tanz ist eine Choreografie unserer Hände, die wir in Keyboards baden. Unsere eigenen Körper übergießen wir mit flüssigem Platin um uns gegen den Strom der Töne, die wir berühren wollen abzusichern.

Der Horizont ist unsere Partitur. An ihm wird der beste Tabak gepflückt. An den Knöpfen der Aufmerksamkeit darf nicht gedreht werden. Wir verblüffen allenfalls durch Gleichmut. Die zeitliche Ausdehnung der Stücke ist zwar meß-, aber nicht fühlbar. Eine Kommunikation zwischen den Spielern ist überflüssig. Dynamik ist nur zwischen der Tatsache, daß wir spielen und dessen Gegenteil und der Gunst des Gegenteils davon. Die Texte sind nicht Bitte sondern Abgesang aufs Bedeutungslose, über eine Latte gezogener Kaffee, der von vorne in eine Trompete gestopft wird zum Aufputschen. Unsere Position ist klar. Das Auditorium wird nie müde. Die Liebe ist verändert worden, sie ist unbeschränkt. Wir könnten uns zu den Tieren wenden und mit ihnen leben. Sie sind so ruhig und selbständig. Wir stehen und betrachten sie lange und lange.

Schorsch Kamerun hat zusammen mit den Künstlern Albert Oehlen und Andre Butzer die Band „Titankatzen“. „New Stream“ nennen sie ihren Musikstil.

78s-Motel: Fabienne Louves schwarz auf weiss

Illustration: Sarah von BlumenthalAls der Concierge am Morgen im 78s-Motel zum Rechten sah, entdeckte er im Zimmer, wo Musicstar Fabienne Louves übernachtet hatte, neben dem Fernseher eine Postkarte, die Louves offenbar dort vergessen hatte. Darauf stand folgendes zu lesen:

Seit ich Musicstar 2007 geworden bin, hat sich mein Leben um 360° gewendet. Vor Musicstar hatte ich einen geregelten Wochenplan, jetzt habe ich unregelmässige Arbeitszeiten und bin ständig unterwegs, was mein Leben aber auch sehr aufregend macht. Ich lerne sehr viele, neue und interessante Menschen kennen von der Musicbranche. Leider muss ich durch das meine Familie und Freunde einwenig vernachlässigen, aber sie bringen vollstes Verständnis auf. Vom Singen leben zu können, war schon immer ein riesen grosser Traum für mich und hoffe natürlich auch dass ich dies einige Jahre durchziehen kann. Wichtig ist neben meinem Einsatz die gute Zusammenarbeit mit Plattenfirma und Management, die Unterstützung von Medien und Volk und der Spass an der Musik, welcher ich mit 100-prozentiger Sicherheit immer mein ganzes Leben lang haben werde. Im Moment ist mein Album „Schwarz uf Wiis“ für mich ein riesen Erfolg und bin richtig Stolz auf mein Werk.

78s-Motel: Jürg Morgeneggs Fistfuck mit Baschi

Meine Nacht im 78s Motel möchte ich am liebsten mit Baschi verbringen. Denn: Ich finde Baschi geil! Der Junge hat nämlich die richtigen Zutaten für einen Rockstar: Eine grosse Portion Naivität, ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, Humor, er schreibt seine Songs (zum Glück) nicht selber und nicht ganz unwichtig: Er ist echt!

Sind wir doch mal ehrlich, auch wenn wir alle in diesem 78s-Motel coole alternative und Indie-Zimmer gebucht haben: Auch wir wollten Anfang 20 so sein wie Rocco Siffredi oder? Und kann ich es einem Typen, der Anfang zwanzig ist, verübeln, wenn er sagt bzw. singt, was er denkt? Und bitte: Nicht alles, was im Blick erscheint, eine Fernsehsendung hat und sich gut verkauft, muss schlecht sein. Wir Schweizer und vor allem die kleine Gemeinde der Indie-Zeitgenossen haben halt ein Problem damit, sobald etwas gross ist. Ein bisschen Erfolg ist ok, aber wehe, wenn eine Band erfolgreicher wird als die eigene, ohhhh, dann gibt es aber Problem.

Oder neulich bei der Demotape Clinic am M4Music. Hey, waren die meisten Bands alle brav und bescheiden und vor allem waren sie als Personen so was von langweilig. „Tja, äh, wir wollen halt so ein bisschen spielen und unseren Spass haben und ein gute Zeit. Und wenn dann der Erfolg eintritt, ist das schön, aber wir glauben nicht daran!“ Schön und gut, ist ja auch ok und wenn man sich nicht ständig am Bahnhof trifft, findet das die offene Jugendarbeit auch gut. Aber ehrlich ist das bei den meisten nicht! Liebe Bands, sagt doch einfach, was ihr denkt und reisst mal das Maul auf und macht euch endlich mal gross! Lasst euch was einfallen! Und wenn der Blick die Story druckt, umso besser! Weshalb sind den englische Bands immer so präsent? Weil die’s verstehen, sich ins Gespräch zu bringen! Hype‘ heisst das Zauberwort! Ahh, und da kommt auch schon der Herr Bürgin ins Zimmer spaziert…

Jürg Morgenegg ist Promoter/Booker von Fistfuckerrecords aus Aarau, das so illustre Künstler vertritt wie Urban Junior, Blusbueb oder die Failed Teachers.

78s-Motel: Adrian Weyermann bittet um Ruhe

adrianweyermann.jpgAls erstes brauche ich Ruhe um mich. Keine Telefone, keine Rechnungen, die sich stapeln, keine Schuhe, die drücken. Dann brauche ich meine Gitarre, mein Klavier, mein Tonbandgerät und vor allem ein Quäntchen Einbildung. Oder ist es Vorstellungsvermögen? Das Gefühl, jetzt etwas Wichtiges zu tun. Mich zu sehen als Miles, wenn er die Trompete ansetzt, oder Kippenberger (der deutsche Künstler) wenn ihm am Tresen eine absurd-treffende Idee kam. Davon überzeugt sein, dass es etwas Wichtiges wird, noch bevor der erste Ton aus dem Klavier kommt und doch nicht so verkrampft wollen, dass es einzigartig ist, das heisst, sich nicht hemmen mit dem Kontrollblick auf jedes Bisschen. Ich bin nämlich so gern, was ich gerne wäre. Und ich kann sein, was ich immer wollte, werde zu dem, was ich komponiere. Ich kann den Weg bestimmen, ich setze die Grenzen, ich bestimme die Länder. Ton für Ton. Arbeit, viel Arbeit, aber Big Time!

Blendende Aussichten, nicht wahr? Würde ich meiner besten Freundin empfehlen; kreativ zu sein. Und doch zucke ich selber bei dem Wort zusammen: KREATIV (pfui!!), weil sich jeder Werbetexter kreativ nennt, jeder Bankheini zur genialen Kreatur wird. Jedes gelangweilte Zürcherlein auch noch ein schickes Atelier hat, wo man sich so wahnsinnig eitel betätigen kann. Was soll also das Ganze Sich-seiner-Originalität-brüsten? Nix! Originell sein kann nicht das Ziel sein, wenn die Kunst nichts als ein Aufschrei, eine einzige grosse Befreiung von allen Zwängen sein soll. Und das kann jeder und sollte jeder tun und sei es nur, Lieblingsworte auf dem Klopapier festhalten, Seidenmalerei betreiben, aquarellieren, Gutenachtgeschichten erfinden, what the fuck! Denkt Euch die engen Schweizer Grenzen weg, stellt Euch alles vor und lasst Euch nix vorschreiben. Da bin ich ganz Idealist, (Eid-)Genossen! Und jetzt Ruhe bitte…

Adrian Weyermann spielt an fast allen Schweizer Openairs: Hoch Ybrig, Quellrock, St. Gallen, Wettingen, Woodrock, Gurten und Waldstock. Zum Interview mit Adrian Weyermann geht’s hier lang.

1. Gast im 78s-Motel: Kutti MC mit einem Essay on pills

Ich stemme den leeren Kühlschrank über meinen Kopf, um so den ertrunkenen Alkohol zu lobpreisen: Konzertpostale Depressions-Gymnastik. Von der Höhe der Bühne, wo ich in einer anderen Wirklichkeit agierte, freestylte, wirkte und war, stürze ich zurück in eine versiffte Second-Hand- Backstage-Sofa-Landschaft. Eben noch war ich Hohepriester, Tänzer, Entertainer wider Natur, jetzt wieder ein Betreibungsschreiben-Empfänger, ein autobahnraststätten- ammorgenumdreiuhrsandwichfressender Mittelland-Hip-Hop- Rock’n’Roller: Diese Diskrepanz, diese Spannung gilt es auszuhalten. Für wahr!

CH-Musik: Pseudoprovokatives Formatradio-Poprock- Retortenprodukt á la Spiesser-Baschi? For Example. Wanna fuck with me? I eat Prix-Walos daily, you know? Und das als bleicher Brillenträger, der ich bin. Alternativ sexy. Was ich mir anmasse? Mein Massstab ist lange und ich fliege hoch. You know? Durchschnittseuphorisch: Das CH-Music- Business. Fuck off! Jetzt Jammerverbot.

Es gibt auch übergute Musik aus der Schweiz. Gottlob, ich bin nicht alleine (Stimme aus dem Off: „Hey, der Kutti ist ja so was von arrogant! Was meint der eigentlich, wer er sei, hä?“ Ich zur Stimme aus dem Off: „Deine Mutter und ich rauchen zusammen mit Scarlett Johannson Crack im Whirlpool, Baby Bitch!“). Ach! Diese postpubertären Hip- Hop-Posen. Lächerlich diese selbstgefällige Ernsthaftigkeit mancherorts.

Ich rufe meine Mutter an. Will dieses Jahr als 50-Rappen-50-Cent-Verschnitt CH-Open-Airs besuchen. Will im Konsum aufgehen. Hoffentlich näht sie mir das Kostüm, obwohl ich doch kein motherfucking Muttersöhnchen bin, welches sich nur Dank Papis Cash zum Freizeit-Hip-Hoper stilisieren kann …. Fuck off. Wo war ich? Um was geht es in diesem Text? Ich denke, ums nüchtern werden. Ein Versuch. It’s just ein Essay on Pills, you know?

Ach, ja, zurück zum Anfang: Ich stemme also den Kühlschrank über meinem Kopf und … erwache am nächsten Morgen, als der Motelmanager an die Türe hämmert: Was ist passiert? Höret, liebe Gemeinde, meine Kunst, meine Lieder sind Antwort genug. Just to repeat: Die Welt hat vielleicht nicht gewartet auf einen wie mich, ich aber auch nicht auf eine wie sie. Thank you, Scarlett. I’m out. One Love!

[Das aktuelle Album von Kutti MC „Dark Angel“ (Muve) ist beim Plattenhändler Downloadanbieter deines Vertrauens erhältlich. Das neue Video zu „St. Helvetia“ gibts hier]

Zimmer frei: 78s-Motel

Morgen öffnet auf Kilometer 78 des Datenhighways das 78s-Motel seine Tore. Wöchentlich sperren wir einen mehr oder minder prominenten Gast mit Schreibzeug und bewusstseinserweiternden Substanzen in ein Zimmer und die werte Leserschaft darf sich samstäglich an den ungefilterten Pamphleten und Seelenstripteases ergötzen. Soviel sei verraten: Der erste Gast hat, wie es sich für einen Mittellandhiphoprocknroller gebührt, bereits erste Vandaleakte am Mobiliar verübt, mit dem übergrossen Kühlschrank der Motelsuite sowie Fluchwörtern um sich geschmissen und befindet sich nun in der Ausnüchterungszelle.