Unscharf: Denovali Swingfest
Von Marco Durrer | 10. Oktober 2013 | 0 Kommentare
Konzerte reizen Sinne, wecken Emotionen und beleben Gedanken – bleiben in Erinnerung aber oft unscharf. Sicher ist, dass das Denovali Swingfest @ WeststadtHalle (Essen) ein besonderes Klangspektakel bot.
Der futuristische Shoppingtempel, das Herz der Stadt, pumpt im Herbstgrau buntes Volk durch die Einkaufsgassen. Ausgestorben hingegen das Quartier ännet der Strasse. Alle neunzig Minuten aber schwärmen aus dem Nichts schemenhafte Gestalten wie Fledermäuse in die alte Industrie-Halle und verkriechen sich für eine weitere Stund in stockfinstrer Höhle, um sich liegensitzenstehend neuen, in Gemäuer und Geist widerhallenden Klangexperimenten hinzugeben.
Für vier Tage und 23 hochkarätige Konzerte wird die Musik im Dunkel zur persönlichen Kapelle, zum Dom, zur spirituellen Spielwiese, zum offenen Raum, worin der Alltagslärm neutralisiert und der Weltseele gelauscht werden kann. Die jährliche Werkschau von Denovali ist ein Seligkeit bringender Wallfahrtsort für Nerds, die sich lieber schwer aufliegende Soundtracks zu spektakulären Psychotrips und spontanen Gedankenstunts antun, als einen leicht bekömmlichen Blockbuster im Cinemaxx nebenan. Der ständige Balanceakt auf dem Grat zwischen Wucht und Feingefühl, zwischen Dynamik und Statik, zwischen Selbstverlust und -findung macht sentimental und süchtig bis zur Erschöpfung.
4.10. Auch ohne Gitarren ziehen Barn Owl mit dem ersten Ton in eine faszinierende Anderswelt und reizen mit abenteuerlichem DoomDub zum Höllenritt durch unbekannte Mythen – den Lento mit einer gepflegten Ohrfeige abrupt zu stoppen versteht – drum bewusstlos im wunderbaren, analog-digitalen Klangsee von Deaf Center getrieben – nur kurz aufgetaucht, um den angenehmen Bier/Konzert/Pinkel/Frischluft-Rhythmus einzuhalten und sich auf den Melodiewogen von Saffronkeira und Trompeter Mario Massa wieder einlullen zu lassen – erst geweckt durch eine weitere saftige Watsche des asozialen Rotaug-Zyklopen Celeste – bevor spannende Visuals und elektronische Gutenachtgeschichten von Biosphere den Tag im Happy End beschliessen.
5.10. Witxes und Aun sorgen für den perfekten, subtil-massiven Einstieg in den Tag – Poppy Ackroyd betört mit tief berührender audiovisueller Anmut – das Dale Cooper Quartet taucht bis zum teuflischen Finale in stimmungsvolle Jazzkeller-Atmosphäre – Tim Heckers geschmeidigen Dronespiralen hypnotisieren – bevor Omega Massif laut mit dem Finger schnippt und nicht nur den Headbangern die Müdigkeit austreibt – sodass die Energie noch für einen Abstecher in die Tempelbar reicht, wo eine Handvoll Unwissender zu Michael Jackson tanzt.
6.10. Die fein dosierten Klaviertropfen und Digitalgewitter von Field Rotation bilden einen besinnlichen Prolog – für das virtuos-dramatische Hörspiel von Greg Haines und seinem Alvaret Ensemble – bevor Sankt Otten mit interstellarem Rock in den Sternenhimmel schiesst – wo ein Schwarzes Loch namens Nadja mit einem Jahrhundertdrone in sanft morphenden Lärmstrudel zieht, der mit gelähmtem Hirn, aber sprudelndem Herz geläutert wieder ausspuckt – bevor Nils Frahm im Gegensatz zu allen andern sein Genie mit überflüssiger Selbstinszenierung befleckt – und Kilimanfujis Jazz-Improvisation von der eigenen Düsternis verschluckt wird – bis Emika etwas aus der Reihe tanzt und für einen überraschend clubtauglichen Ausklang sorgt.
Und plötzlich zeigt sich die höhere Ordnung hinter dem Labelkatalog und dessen ausgewogener Mixtur aus PostMetal, PostRock, Ambient und NeoKlassik: Längst hat Metal den Rock auf die Spitze getrieben und ausgereizt, der Musiker nicht mehr Mensch, sondern Mutant. Eine weitere Steigerung führt zum Kollaps, zu absoluter Stille. Was folgt ist der Neuaufbau der Welt auf der Grundlage entkörperlichter Musik, purem Lärm, Geräusch oder per Rückbesinnung auf den einzelnen Ton. Post-Genres weichen zwar alte Muster auf, doch eine Entwicklung scheint nurmehr in der konsequenten Dekonstruktion von Songstrukturen und/oder der Verflechtung klassischer mit digitalen Mitteln möglich. Erst in der musischen Freiheit des Ambient gelingt die Überwindung allen bekannten Einheitsbreis, erst im Zusammenbruch des Konventionellen entsteht Raum zur Erforschung ungehörter Klänge. Und so öffnen sich Pforten zu Hörerlebnissen, deren Impulse – und liegen sie auch im leisen Detail – den Geist zu neu- und einzigartigen Höhen- und Tiefflügen verleiten.
Eine intensive Auszeit der Introspektion und Öffnung gegenüber entrückenden Klangspektren also, in stimmigem Ambiente ohne Schnickschnack, umgeben von einem stillen Zirkel Ähnlichgesinnter. Eine auch in der Monotonie bewegende Meditation und Expedition durch fremde Visionen, die das Bewusstsein für die eigenen erweitern. Musik, die in ihrer Sanftheit und Heftigkeit tief in den Abgrund reisst und zugleich in neue Himmel hebt. Ein verkapptes Freudenfest, wonach man entspannt wie selten ein letztes Mal aus der Höhle tritt und befürchten muss, sich beim nächsten Sonnenkontakt in Staub aufzulösen – und wennschon.
Denovali Swingfest 2014: 25.-26. April in Berlin und 2.-5. Oktober in Essen.
(Fotos Simon Bierwald, cc)
78s wird seit Juni 2015 nicht mehr redaktionell betreut. Die Kommentarfunktion ist deswegen deaktiviert.