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Dr. Pop, machen Live-Alben Sinn?

Von    |   28. Januar 2011   |   8 Kommentare

Nein. Aber für die Fans schon.

Vieles spricht gegen Live-Alben. Man kennt sämtliche Songs bereits, noch dazu in besserer Qualität. Die Bühnengymnastik ist der Stimme anzuhören, das Drum-Solo hatte schon am Konzert seine Längen und der Applaus zerstört den auflösenden Schlussakkord noch ehe er verklungen ist. Die Euphorie des Publikums verweist auf einen Moment, den die Aufnahme nicht reproduzieren kann. Aufgezeichnet wird lediglich die Tonspur einer Ganzkörpererfahrung. Die Gänsehautmomente müssen dabei auf der Strecke bleiben.

Trotzdem veröffentlicht jede erfolgreiche Band spätestens nach dem fünften Studio-Album ein Live-Album. Das Format dokumentiert manch monumentale Tour und mitunter gar historische Momente: Hendrix’ Dekonstruktion der US-Nationalhymne ist der Nachwelt nur dank dem Woodstock-Live-Album erhalten geblieben. Auch wenn das Wichtigste – Schlamm, Sex und Drogen – auf der legendären Tripel-LP fehlt, zeigt der Woodstock-Film immerhin wie die einmalige Performance ausgesehen hat. Doch letztendlich scheitert auch jede Live-DVD an der Un(ver)mittelbarkeit der Live-Erfahrung. Selbst ein Live-Stream ist naturgemäss nur eine Übertragung, die man zwar verfolgen, aber eben nicht erleben kann.

Die Tradition des Live-Albums geht auf die ersten grossen Swing- und Jazz-Konzerte zurück, die in Konzerhäusern über die Bühne gingen, die ursprünglich der Klassik vorbehalten waren. Benny Goodman gab 1938 in der Carnegie Hall das erste Konzert dieser Art. Obwohl der Auftritt auf Tonband aufgezeichnet wurde, ist die Aufnahme erst mit zwölf Jahren Verspätung erschienen, weil für die Veröffentlichung kompletter Konzerte erst die Vinyl-LP erfunden werden musste. So ist das meines Wissens erste Live-Album der Pop-Geschichte Louis Armstrong’s „Satchmo at Symphony Hall“.

Die Aufnahme von 1947 klingt aller Vergangenheit zum Trotz unheimlich gegenwärtig. Armstrongs Charisma ist zum Greifen nah, selbst der leiseste Seufzer ist auf dem Album konserviert. Bei „Black and Blue“ ist man kurz davor zusammen mit dem restlichen Publikum im falschen Moment mit dem Applaus einzusetzen. So manches spricht eben auch für die Technik der Live-Aufnahme: Nähe, Wärme, Authentizität und Spontaneität. Die Gefahr einer Überproduktion ist klein, denn Live-Alben leiden bekanntlich eher an Unterproduktion. Was aus den Boxentürmen so übermenschlich gross geklungen hat, ist auf der heimischen Anlage in der Regel eine Enttäuschung.

So ertrinken die wenigen Argumente, die für Live-Aufnahmen sprechen, in einem Meer minderwertiger Bootlegs. Unplugged-Alben mögen ihren Reiz haben und Aufnahmen improvisierter Darbietungen machen Sinn, weil sie einmalige Formphantasien festhalten, ein Paradebeispiel dafür ist Pink Floyd’s „Ummagumma“. Doch man muss schon ein nostalgischer Luftgitarrenspieler sein, um „Live at Leeds“ für die 14-minütige Version von „My Generation“ zu schätzen. Immerhin kriegt man auf den Klassikern aus dem goldenen Zeitalter der Live-Alben etwas zu hören, wofür im Studio kein Platz war. Bei Bands hingegen, die ihre Songs wie ab Band spielen, sind Live-Alben ein ähnlich grosser Betrug am Fan wie Best-of-Alben mit einem einzigen Bonustrack.

Da sich Studio-Alben heute kaum noch verkaufen lassen, taugen Live-Alben bestenfalls noch als Weinachtsgeschenk für die treuen Fans. Die eingeschworene Fangemeinde weiss die Qualitäten von Live-Alben denn auch am meisten zu schätzen. Element Of Crime, die sich in Interviews wiederholt explizit gegen Live-Alben ausgesprochen haben, wurden in einer E-mail-Fragerunde von einem Fan auf das Thema angesprochen: „Bitte, bitte veröffentlicht doch mal wieder ein Livealbum!!! Ich habe in einem Interview gelesen, dass ihr die einzigartige Livestimmung eines Konzertes nicht auf CD pressen wollt. Millionen Fans sind anderer Meinung! Gibt es Hoffnung?“

Die Band antwortete: „Leider ist es nicht so, daß wir die einzigartige Livestimmung eines Konzert nicht auf CD pressen wollen, sondern daß man die einzigartige Livestimmung eines Konzerts nicht auf CD pressen kann. Da liegt das Problem, der Hase im Pfeffer, der Hund begraben, das ist die Crux, der Haken bei der Sache, der Boden der Realität. Ein Livekonzert ist immer mehr als nur die Musik und eine CD-Veröffentlichung davon immer eine Enttäuschung. Oder, wie wir gerne sagen: Es ist, wie wenn man am Schlüsselloch einer Party lauscht, zu der man nicht eingeladen war.“

Wohlgemerkt haben Element Of Crime 2006 dann doch zwei Konzertmitschnitte als Download veröffentlicht. Das „Köln-Konzert“ stieg auf Platz 1 der deutschen itunes-Charts ein und wurde in der folgenden Woche vom „Berlin-Konzert“ abgelöst. Im letzten Jahr haben Sven Regener und seine Mannen mit zwei weiteren Live-Aufnahmen nachgedoppelt. Wo eine Nachfrage ist, ist eben immer auch ein Angebot.

> Leserfragen an: dr.pop(ät)78s.ch

8 Reaktionen

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  1. #1 Dominique Marcel Iten

    14:17 Uhr, 28.1.2011, Link

    Live Alben können auch schöne Erinnerungsträger sein. Das Pearl Jam Konzert von 2000 im Hallenstadion ist so eines…wenn das ganze Publikum den Refrain nochmals einstimmt, ist das eine toller Moment.
    Aber wie schon gesagt, mehr was für Fans.
    Dazu auch ein spannender Link:
    http://www.pearljambootlegs.org/modules/news/

  2. #2 the aeschli

    17:46 Uhr, 28.1.2011, Link

    in der heutigen zeit eher langweilig, zwar meist sehr gute aufnahmen, aber oftmals sind die songversionen fast identisch mit der studioproduktion. ausser, dass am ende hald geklatscht wird und bei 2-3 songs vermutlich mal noch der refrain doppelt kommt, der dann das publikum mitsingt…
    da mag ich doch lieber schlechte aufnahmen innovativer bands aus den 60’s & 70’s, teils aus den 80’s, wo man live die stile gewechselt hat, die solis ausufern liess und was weiss ich, wo 3:47min songs plötzlich 9:23 oder so. ansonsten kan ich mir das live album wirklich sparen

  3. #3 Dominique Marcel Iten

    23:07 Uhr, 28.1.2011, Link

    Da wären mal The Mars Volta live-Alben spannend…

  4. #4 Ey Lou

    00:53 Uhr, 29.1.2011, Link

    Och naja, ich persönlich mag Live-Mitschnitte. Aber nur solche, an denen nachträglich nicht rumgepfuscht wird. Heutige Live-Alben und Live-DVDs sind längst nicht mehr so „live“, wie gerne suggeriert wird. Regelmäßige Schönheitskorrekturen:

    – Der Mitschnitt ist eine Mischung von mehreren Konzerten (Okay, das ist noch harmlos).
    – Sogar einzelne Songs sind bisweilen eine Mischung aus verschiedenen Mitschnitten.
    – Die einzelnen Spuren werden separat aufgenommen und für das Live-Album/die Live-DVD im Studio noch einmal neu gemischt & gemastert
    – Die einzelnen Spuren werden mit Overdubs korrigiert, d.h. Live-Spuren werden durch nachträglich eingespielte Studio-Spuren ausgebessert oder komplett ersetzt.
    – Gesang wird per Autotune korrigiert oder neu eingesungen
    – Selten, aber auch schon erlebt: Das Live-Album ist in Wirklichkeit eine reine Studio-Produktion, die dann z.B. gerne als „Unplugged“- oder „In Concert“-Album betitelt wird, mit allen Bemühungen, den falschen Eindruck zu erzeugen, es läge ein Live-Mitschnitt vor.

    Natürlich machen nicht alle „Live“-Alben von allen diesen Mitteln Gebrauch, aber zumindest einige finden sich in praktisch jeder neueren „Live“-Produktion. Ziel ist es immer, den Hörern das „Live-Feeling“ und gleichzeitig Musik in (fast-)Studioqualität zu verkaufen, die ihren Hörerwartungen entspricht. Denn was live, mittendrin und bei 115 Dezibel bombastisch klingt, macht bei Zimmerlautstärke oft nicht mehr viel her…

  5. #5 gisi

    19:28 Uhr, 29.1.2011, Link

    n paar live alben hab ich auch zu haus.
    gefallen tun mir insbesondere nirvana „roma“ (bootleg). unter anderem schöne ansage zwischen den songs wo die security people zu mehr zurückhaltung ermahnt werden.
    auch mano negra „in the hell of patchinko“ gefällt. bessere versionen als auf den studio alben und ein enthusiastisches japanisches publikum.
    der punk klassiker: ramones „it’s alive“.
    und natürlich rock’n’roll realschule der besten band der welt…

    schön find ich auch wenn im booklet der cd erwähnt wird was nachträglich korrigiert wurde. so zu lesen bei züri west „winterthur“.

  6. #6 Mathias

    02:49 Uhr, 30.1.2011, Link

    @Dominique: Gibt es! Scabdates heißt die Scheibe, ist gar nicht mal schlecht.

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