Arcade Fire: Von einer Indie-Rock-Band zum Kulturgut
Von Mathias Menzl | 25. Juli 2010 | 8 Kommentare
„Funeral“ war eine Offenbarung, „Neon Bible“ die krampfhafte Bestätigung und „The Suburbs“ ist nun der epische und ehrliche Befreiungsschlag in Richtung bedeutendste Rockband der Zehnerjahre.
Es gibt in der Bio- und Discographie einer Band immer einen Meilenstein. Blickt man in ein paar Jahren auf das Schaffen von Arcade Fire zurück, dann wird „The Suburbs“ wohl der Meilenstein der Band sein, mit dem sie sich von einer Band zu einer Institution zu entwickeln begannen. Mit „The Suburbs“ präsentieren Arcade Fire das mutigste, ehrlichste und beste Indie-Rock-Album, das je produziert wurde. Wenn ihr Label Universal Music alles richtig machen will, dann stecken sie in „The Suburbs“ alles Marketing-Budget, das sie haben und machen die Band zu den neuen Radiohead. Die BBC schloss ihre Review mit dem akkuraten Vergleich: „You could call it their OK Computer. But it’s arguably better than that.“
Arcade Fire haben sich auf „The Suburbs“ auf ihre Grundgefühle besonnen. Das Grundthema der Platte ist „Back to the roots“. Zurück zum Vorortleben in Houston, als Aufbruchstimmung herrschte, soviel Ideen und Träume gewälzt wurden wie Joints gedreht, zurück zur Natürlichkeit und zu genuinen Gefühlen, weg vom Erwartungsdruck der Musikindustrie und der Fans, weg von Wirtschaftlichkeit, drögem Tourleben und Oberflächlichkeit.
Win Butler erzählte in den bisherigen Interviews im Vorfeld der Veröffentlichung beispielsweise mit dem NPR oder mit Les Inrockuptibles immer wieder dasselbe: Nach der „Neon Bible“-Tour seien sie ausgelaugt gewesen, sie fühlten ich gefangen in einem Wirbelsturm. Butler erzählte von der Sehnsucht nach dem bewussten Erleben von Jahreszeiten, die Hitze des Sommer, die Kälte des Winters, das Bedürfnis nach Strukturen sei sehr ausgeprägt gewesen. Ausserdem schwang eine starke nostalgische Melancholie mit. So erinnerte er sich beim Schreiben der Songs an ein Filmprojekt, das er mit einem Schulfreund zusammen hatte. Sie arbeiteten an einem Drehbuch für einen Science Fiction-Film, in dem sich zwei Vororte duellierten. Das Projekt wurde nie umgesetzt. Dennoch waren es für Butler diese Erinnerung, welche zum Entstehungsprozess von „The Suburbs“ beigetragen haben. „Ich habe eine starke, lebensechte Einfachheit gefunden in diesen Jugendideen“, so Butler. Eines der stärksten Zitate dazu findet man im Song „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“: “If I could have it back, All the time that we wasted, I would only waste it again“. Das ist kein Songtext, das ist Poesie.
Die besten Songs schreibt eine Band, wenn sie in Aufbruchstimmung ist. Unbelastet und unschuldig, so sollten Songs geschrieben werden. Da hält man sich weder mit Gedanken zu Rezeption noch Erfolg oder Misserfolg auf, man hört auf sich selber, sein Inneres und spielt was und wie man es will. Genau dieses Gefühl kommt auf „The Suburbs“ zum Ausdruck und darum ist die Platte wohl auch so heterogen und kraftvoll ausgefallen. Alle Ideen wurden zu Ende gedacht und auch konsequent durchgezogen. Von Rockkrachern wie „Month of May“, bei dem sie sich wohl auch nicht davon beirren liessen, dass er stark nach den Queens of the Stone Age klingt, über 80s Disco-Songs wie „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“, zu Pettyesken Folk-Songs wie zum Beispiel das grandiose „Modern Man“, auf „The Suburbs“ ist alles vertreten. Fuzzy Gesänge, noisige Gitarrenwände, Synthesizer-Attacken, epische und ausschweifende Streicher-Arrangements, treibende Rocksongs. Arcade Fire haben sich befreit von der sozialen Erwartungshaltung an eine Indie-Band. Im Interview mit NPR beschrieben sie die Platte selber als „Neil Young crossed with Depeche Mode“, dazwischen kommen sie vorbei bei Supertramp, Talking Heads, Abba, Tom Petty, Bruce Springsteen, Ultravox, Spiritualized, ELO oder New Order. Krasser kann die Spannweite einer Rock-Platte wohl nicht sein.
Als Gesamtentwurf, als den man „The Suburbs“ unbedingt betrachten und auch geniessen sollte, enfaltet die Platte eine ungeheure Kraft. Zusammengehalten durch den thematischen roten Faden und eine musikalische Grandezza, die Arcade Fire mittlerweile als Band erreicht haben. Die hohe Kunst Musikfans und Musikjournalisten über 16 Songs zu fesseln, das gelingt nur wenigen Bands, die man an einer Hand (wenn überhaupt) abzählen kann. „The Suburbs“ ist die endgültige Bestätigung, das berühmte dritte Album, das wegweisend sein wird für eine Band. Arcade Fire sind auf dem besten Weg dazu, von einer Indie Rock-Band zum Kulturgut zu werden. Die Platte dazu haben sie jetzt.
> „The Suburbs“ erscheint am 3. August auf Universal Music. Die Platte ist zwar am 23. Juli geleaked, 78s empfiehlt jedoch allen, die Platte zu kaufen. Sie wird sich in eurer Platten- , CD- oder mp3-Sammlung mehr als gut machen. Und gewisse Platten sollte jeder Musikfan einfach im Original besitzen, „The Suburbs“ gehört bestimmt dazu.
Arcade Fire – Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)
A. The Suburbs