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Platte der Woche: Laurie Anderson – Homeland

Von    |   30. Juni 2010   |   0 Kommentare

Eine Dekade lang war es still um Laurie Anderson. Mit „Homeland“ gibt die Avantgarde-Ikone ein beeindruckendes Comeback.

Nach zehn Jahren Auszeit hat man von Laurie Anderson eigentlich nichts anders erwartet als ein komplexes Epos, das die Post-9/11-Geschichte aufrollt. Genau dies tut „Homeland“ (Nonesuch Records). Die New Yorkerin kommentiert die Dekade des Terrors, den Börsencrash und die Klimaveränderung. Sie erzählt aber auch von einer Zeit, zu der es noch keine Zeitrechnung gab.

Wie schon seine Vorgänger ist auch Andersons sechstes Studioalbum ein scharfsinniges sozialkritisches Textkonstrukt mit wechselnder Erzählperspektive. In „Another Day In America“, dem elfminütigen Herzstück, verwandelt sich Anderson mittels heruntergepitchter Stimme in eine Karikatur des angegrauten College-Professoren, den sie auf dem Cover mimt. In anderen Stücken gibt sie sich als weise Märchentante, als motorischer Roboter oder als ätherischer Engel.

Während die junge Musikergeneration weitgehend apolitisch musiziert, bringt Laurie Anderson wie keine andere Künstlerin Pop und Politik zusammen. Die 63-Jährige ist in erster Linie eine Lyrikerin und erst in zweiter Linie eine Songwriterin. Ihre Alben wirken wie musikalisch untermalte Hörbücher. Andersons minimalistische Klangarchitektur wirkt heute noch so futuristisch wie gestern. Synthesizer und Violine dominieren den stillen Klangfluss, über dem sich ein apokalyptisches Gewitter zusammenbraut.

„Homeland“ umgibt eine New-Age-Mystik, die an Coco Rosie’s „Grey Oceans“ erinnert. Die indianischen Gesänge, die das Album eröffnen, legen den Grundstein für die meditative Grundstimmung, die lediglich von der Uptempo-Nummer „Only An Expert“ durchbrochen wird. Kieran Hebden (Four Tet) hievt den Abgesang auf den Managerismus mit einem 4/4-Beat auf die Tanzfläche. An der heulenden Gitarre ist Andersons Ehemann Lou Reed zu hören.

Zusammen mit Roma Baran hat Lou Reed auch die Produktion übernommen. Im Studio gastierten zudem Antony, dessen Gewimmer wiederholt im Hintergrund zu hören ist, und John Zorn, dessen Saxophon lautmalerisch durch das Album geistert. Die fünf Männer, die ihr bei den Aufnahmen behilflich waren, machen der Sängerin die Hauptrolle keinen Moment lang streitig. Laurie Anderson hat mit „Homeland“ eine wundersame Klangwelt erschaffen, die einen daran zweifeln lässt, ob Gott tatsächlich ein Mann ist.

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