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Platte der Woche: Jamie Lidell – Compass

Von    |   5. Mai 2010   |   0 Kommentare

Jamie Lidell sieht mit „Compass“ über den Tellerrand des Soul hinaus und bricht auf zu neuen Ufern. Wir folgen ihm bereitwillig.

Das letzte Album von Jamie Lidell war etwas gar zahm ausgefallen. „JIM“ orienterte sich stark am goldenen Zeitalter des Soul, woran grundsätzlich nichts auszusetzen wäre. Doch von einem Ausnahmekünstler wie Lidell erwartet man eben mehr als eine lupenreine Retro-Reproduktion.

Mit „Compass“ (Warp) orientiert sich Jamie Lidell neu. Sein viertes Album bietet das, was man sich vom Ex-Super_Collider wünscht: Statt auf Nummer sicher geht der Brite diesmal mehr Risiken ein. Er experimentiert mit Sounds und Stilen und lässt die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen.

Schon im Opener „Completely Exposed“ wird deutlich, dass Lidell die Experimentierwut zurückgewonnen hat, die „Multiply“ prägte. Beatboxend eröffnet er die Platte und baut den Song Schicht für Schicht auf, als wäre er Teil eines seiner Loop-lastigen Live-Sets. Wie ein zum Zombie mutierter Prince-Klon schreit sich Lidell darauf zu einem knarzenden Vocoder-Basslauf, der halb Stimme, halb Orgel ist, die Seele aus dem Leib. Auch im zweiten Stück spielt Lidell mit Stimmverfremdungseffekten: „Your Sweet Boom“ klingt anfangs wie eine 7-Inch, die mit 33 Touren läuft.

Die Gästeliste ist prominent besetzt: Beck, Feist, Chris Taylor (Grizzly Bear) und Pat Sansone (Wilco) haben Lidell bei den Aufnahmen in dessen Studio in New York und auf Feists Farm in Ontario unter die Arme gegriffen. Die Klangvielfalt, die aus dem Dream-Team resultiert, ist beeindruckend. „She Needs Me“ ist Schmusesoul an der Grenze zum Kitsch, „Telephone“ bietet typisch Lidell’schen Stakato-Funk und der abgefuckte Soul-Blues von „The Ring“ erinnert an die formidable neue Single der Black Keys. Noch heftiger rumpelt das von einer Fuzz-Gitarre getriebene „You Are Waking“.

„Compass“ vereint schier unerschöpfliche Detailverliebtheit mit unmittelbarer Eingängigkeit. Lidell gibt sich verspielt, ohne sich im Eklektizismus zu verzetteln. Stärker als je zuvor arbeitet er mit Atmosphäre: Die Singer-Songwriter-Qualitäten des eingangs rein akustischen Titelstücks sind gewöhnungsbedürftig, doch im Endeffekt auf radioheadeske Weise überzeugend. Mit „Big Drift“ wagt Lidell einen überraschenden Abstecher in psychedelische Gefilde, worauf sich das Album nach 14 Songs mit dem Gospel „You See My Light“ schliesslich im weissen Rauschen verliert. Phänomenal.

> Jamie Lidell live: 13.5. Zürich, Kaufleuten

„The Ring“:

Im Proberaum mit der „Compass“-Live-Band. „Your Sweet Boom“:

Making-of „Compass“:


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