78s has left the building. ¯\_(ツ)_/¯

Tektonische Plattenverschiebung in der Schweizer Indie-Szene

Von    |   10. Juni 2009   |   93 Kommentare

Es tut sich was in der Schweizer „Indie-Szene“. Die Klassenbesten Luzern und Lausanne wurden heimlich abgelöst. Schuld daran haben zwei schöne Frauen. Wie das halt so läuft im Leben.

Die eben veröffentlichten ziemlich grossen Platten der Züri-Bands Gabardine und Schnitzer haben unterstrichen, was sich schon länger abzeichnet: Lausanne ist nicht mehr die Indie-Hochburg der Schweiz,  Luzern hat seinen Status als „Rock-City“, der ihm vom Zürcher Magazin RockStar 2005 verliehen wurde, endgültig verloren.

Was ist geschehen? Luzerns Status als Rock-City gründete auf einer wunderbaren kleinen Szene von jungen Menschen, die Musik machten und sich idealistisch für Musik einsetzten. Neben dem Amateur-Label Little Jig verfügte die Stadt über eine musikfreundliche Kulturförderung und mit Radio 3fach über einen vorzüglichen Jugend-Radio-Sender. Seit 2005 hat sich aber etwas Wichtiges geändert. Im Zentrum des Wandels: Little Jig. Die meisten Bands haben das Label verlassen und sich anderweitig organisiert: dazu zählen Mothers Pride, The Delilahs, Marygold und Flink. Einzig Heidi Happy scheint glücklich zu sein.

Kein Wunder, denn mit ihr verdient das Label sein Geld. Sie hat dafür gesorgt, dass Little Jig sich professionalisiert hat. Das hatte Konsequenzen: Die idealistische Amateur-Struktur wurde aufgegeben, der Fokus voll auf Heidi Happy gerichtet. Jungen Künstlern eine Plattform zu bieten, stand nicht mehr im Vordergrund. Klar, Luzern hat immer noch gleich viele gute Bands wie früher, und auch immer noch ein super Radio, aber die integrative Kraft namens Little Jig ist nicht mehr das, was sie mal war. Neue Labels wie Goldon Records stecken noch in den Kinderschuhen, könnten Little Jig aber bald beerben.

In Lausanne hat sich Ähnliches abgespielt. Christian Fighera hat zusammen mit dem Young Gods-Manager Patrick David im April das Label Two Gentlemen aus der Taufe gehoben, mit dem Ziel, Sophie Hunger, Kutti MC und The Young Gods ein professionelles Label-Zuhause zu bieten. Wie in Luzern fehlt jungen Bands nun ein Label, das sie als Sprungbrett nutzen können. Der Gentlemen-Katalog setzt sich heute mehrheitlich aus Westschweizer Acts zusammen, die Ende der 90er jung waren und mittlerweile arriviert sind. Daneben hat Gentlemen das Booking-Geschäft ausgebaut. Mit einer Nachwuchsband hat das Lausanner Label schon lange nicht mehr auf sich aufmerksam gemacht.

Der kommerzielle Erfolg zweier Frauen, Sophie Hunger und Heidi Happy, hat in Lausanne und Luzern die Ressourcen der verantwortlichen Labels derart gebündelt, dass in der Nachwuchsarbeit ein Vakuum entstanden ist.

An die Stelle von Little Jig und Gentlemen Records treten andere Nachwuchsförderer. Damit einher geht eine geographische Süd-Nord-Verschiebung. In der Westschweiz von Lausanne nach Fribourg, in der Deutschschweiz von Luzern nach Zürich.

Saïko Records aus Fribourg setzt neuerdings die Akzente in der Westschweiz. Toboggan, ehemals auf Gentlemen, veröffentlichen schon bei Saïko. Mit Farlow, Tasteless, Underschool Element und Soften hat das Label vier sehr gute Nachwuchs-Acts in ihren Reihen. In der Deutschschweiz tut sich Ikarus Records aus Zürich hervor, das die neue Disco Doom-Platte und Gabardines Indie-Juwel „Years & Airports“ veröffentlicht hat. Neben den Gründungsmitgliedern von Duara, John Sars und Kid Icarus war auch mal die Verpflichtung der Hipster-Band Schnitzer ein Thema. Die basis-demokratischen Label-Strukturen standen dieser Weiterentwicklung aber im Wege.

Auch sonst hat sich Zürich sehr positiv entwickelt. Es gibt wohl keine Bar zwischen Limmat- und Helvetiaplatz, die nicht regelmässig Konzerte von Schweizer Bands veranstaltet. Zürich hat zurzeit die wohl lebendigste Indie-Szene zu bieten. Künschtli macht schon länger einen hervorragenden Job, ebenso das kleine Cartoon-Heroes-Label. Aber nicht nur in Sachen Rock-Musik, sondern auch was Electro anbelangt. Tim und Puma Mimi werden dieses Jahr noch durchstarten, Mr. Soul sind sowieso ein todsicherer Wert und das jüngst veröffentlichte Album von Zwicker hat Weltformat.

Die ehemals Klassenbesten Little Jig und Gentlemen Records sehen sich konfrontiert mit einer immer lebendigeren Szene und Vielfalt an Labels. Trotz des Verlusts der integrativen Kraft der beiden Vorzeigelabels ist dies eine sehr positive Entwicklung, natürlich auch für die beiden grossen Indies, denn Professionalisierung ist immer gut, nur müssen neue idealistische Indies nachrücken. Bleibt zu hoffen, dass sich die kleinen Labels, die sich jetzt profilieren dürfen und vom Boom profitieren können, ihrer Chance bewusst sind und sich nicht selber im Weg stehen.