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Dr. Pop, warum hält das Schweizer Konzertpublikum immer einen Sicherheitsabstand ein?

Von    |   20. Juni 2008   |   3 Kommentare

Das Schweizer Publikum kommt an nicht restlos ausverkauften Konzerten der Bühne lieber nicht zu nahe. Selbst wenn die Musiker uns wohlwollend heranwinken, zögern wir. Sind wir anders als alle andern?

Dr. Pop

Wir sind von Natur aus diskret. Uns nervt vieles, doch wir schlucken unsere Wut herunter. Wir rufen höchstens aus, wenn wir den Kassensturz auf unserer Seite wissen. Wir mischen uns nämlich nicht gerne ein. Wenn einem hier etwas stört, dann soll man sich gefälligst anpassen oder verschwinden. Erlaubt ist bei uns grundsätzlich nur, was nicht stört. Deshalb gibt es auch wenig Gründe sich aufzuregen.

Mit unserer Bescheidenheit erreichen wir viel. Als Pragmatiker profilieren wir uns durch das, was wir machen, nicht durch das, was wir sind. Ein Olympiastadion in einer demokratischen Diktatur – wir liefern die Pläne, Schwarzgeld von Drogenbaronen – wir garantieren Return on Investment, die Weltranglisten-Nummer 1 – wir haben sie, den Oskarregisseur – wir stellen ihn.

Uns haut so schnell niemand übers Ohr! Wir wissen schliesslich, wie man Geschäfte macht. Was wir planen funktioniert, denn wir haben Realitätssinn. Wir sind uns unserer Fähigkeiten bewusst und deshalb durchaus selbstbewusst. Und doch fehlt uns die Selbstsicherheit. „Will mir Hemmige hei“. Wir stehen in der Ecke oder gucken von der Bande aus zu.

Wenn es um’s Toreschiessen geht, versagen wir, denn wir haben Angst aufs Ganze zu gehen. Und wir haben Angst, uns zu blamieren. Überhaupt fürchten wir uns vor vielem in unserem Hotel Angst: Wir fürchten die Raffgier der Gäste, wir fürchten die Lebensmittelinspektion, wir fürchten uns vor den Leichen im Keller. Doch nichts fürchten wir mehr als das Chaos. Deshalb sind unsere Parkfelder immer frisch gestrichen, unsere Rasen immer gemäht und unsere Vorplätze immer gewischt.

Weil der erste Eindruck zählt, sind wir immer gut angezogen. Das macht uns durchschnittlich schön. Hässlich sind wir selten, dazu sind wir einfach zu herzig. Doch wenn wir im Tram sitzen, ist mit uns nicht gut Kirschen essen. Wir starren stumm auf unser 20Minuten und schlucken die ganze Medienscheisse in stiller Trauer hinunter. Ein Gesprächsthema für die Kaffeepause wird sich darin immerhin finden.

Am Abend gehen wir früh ins Bett, denn morgen polieren wir unsere Swissness wieder auf Hochglanz. Wir müssen immer früh raus und stehen öfters mit dem falschen Fuss auf. Aber wir bleiben optimistisch. Morgenstund hat schliesslich Gold im Mund. Und es gibt ja auch wieder viel zu tun. Unsere Terminkalender sind voll, überhaupt planen wir alles. Was sich nicht kalkulieren lässt, lassen wir lieber gleich bleiben. Wofür es keinen Vertrag gibt, darauf gehen wir nicht ein. Was der Schweizer Bauer nicht kennt, frisst er nicht.

Erfolg haben wir nicht mit Ideen, sondern mit Präzisionsarbeit. Wir sind die besten Dokumentarfilmer der Welt, aber wenn es darum geht, selbst eine Geschichte zu erzählen, fällt uns nichts ein. Lieber beobachten wir die andern, die Deutschen zum Beispiel. Die sind nämlich alle so anders als wir. So arrogant, so unverfroren, so dränglerisch. Und dann an Partys plötzlich so fürchterlich gesellig. Das sind wir höchstens am Jasstisch. Wir haben zwar ein funktionierendes Sozialsystem, aber keine soziale Kompetenz.

Doch halt. Natürlich sind wir nicht alle so verklemmt, bünzlig und frustriert. Es gibt schliesslich auch aufgeschlossene, kreative, spontane, warmherzige, humorvolle und unpünktliche Schweizer, mit denen man über Kunst sprechen kann. Doch auch sie lassen einem nie so recht an sich ran. So bleiben wir lieber auf Abstand, auch an Konzerten. Denn letztendlich sind wir alle gleich. Anders als alle andern.

> Leserfragen an Dr. Pop, den Briefkastenonkel von 78s, an: dr.pop(ät)78s.ch

3 Reaktionen

  1. #1 James

    19:49 Uhr, 20.6.2008, Link

    Eine wunderbar pointierte und treffliche Schreibe Herr Dockter, man gratuliert!

  2. #2 stubi

    10:00 Uhr, 23.6.2008, Link

    haha… geil

  3. #3 hankock

    13:26 Uhr, 4.7.2012, Link

    ein Volltreffer! Bravo…

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